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Hinweise 2021

Prozess Auschwitz – Theater+ Film

Preview am 18. November 2021 um 20.00 Uhr im Gallustheater Frankfurt a. M., Kleyerstr. 5

Die Überlebenden der Vernichtungslager hatten die Bürde des Erlittenen für ihr weiteres Leben zu tragen. Der Frankfurter Auschwitz-Prozess zwang die ZeugInnen, sich dem Prozess des Erinnerns, des Berichts, der Befragung in öffentlicher Verhandlung auszusetzen. Wir nutzen die Protokolle des Prozesses, konzentrieren uns aber auf die unterschiedlichen Formen des Erinnerns: Erinnern als Rekonstruktion, fragmentierte und zerstörte Erinnerung, abgewehrte, verformte Erinnerung, Bilder ohne Sprache, scheiternder Sprechversuch. 

Auf der anderen, der Täterseite die Erinnerung als Verfälschung, Verleugnung oder Rechtfertigung, auftrumpfend oder abwehrend, larmoyant, aggressiv. 

Ästhetisch nähern wir uns diesen Formen des Erinnerns mit einer Partitur aus Stimmen, Aktionen,  einer Komposition für Sopran,Rauminstallation.

Szenisch werden Positionen im Prozess des Erinnerns, die der Opferzeugen und die der Täter, als unvereinbar gegenüber gestellt, es gibt keinen Dialog, es wird nicht die Form des Gerichtsprozesses gewählt. 

Die Textur des Films ist experimentell, nicht dokumentarisch. Es ist ein hybrides Projekt, indem sowohl die Form einer Aufführung in einem Theaterraum mit integriertem Film, als auch die Vorführung als Film gewählt werden kann, auch in Kombination mit einer szenischen Lesung. 

Das Projekt kann in seinen verschiedenen offenen Formen sowohl für Gedenk- und Diskussions-Veranstaltungen, in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen eingesetzt werden. Es kann auch als Material für die Arbeit von Laiengruppen genutzt werden. Der Film kann ausgeliehen werden für nicht kommerzielle Veranstaltungen. 

​Mitwirkende:
Akteure und Sprecher*innen: Barbara Englert; Edgar M.Böhlke; Ilja Kamphues
Komposition: Gerhard Müller-Hornbach 
Solistin: Johanna Greulich
Regie, Dramaturgie, Bühne: Ulrich Meckler
Video-Editing: Rainer Brumme
Kamera: Bernd Löser, Ulrich Meckler
Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Elisabeth Rohr (Marburg,Frankfurt)

Film-Booklet, Website des Theaters

Medienberichte

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Martin Rector: Erinnerungen an Jost Hermand

* 11. April 1930 in Kassel; † 9. Oktober 2021 in Madison, Wisconsin

Jost Hermand, 1994 (Foto: Claude Lebus, CC-BY-SA-3.0)Jost Hermand – ich erinnere mich gut – stand natürlich schon in meinem studentischen Bücherregal. Seine Reclam-Anthologien über „Das Junge Deutschland“ (1966) und „Der deutsche Vormärz“ (1967) waren irgendwie unverzichtbar, seine pragmatisch-streitbare Intervention über „Synthetisches Interpretieren“ (1969) half bei der Orientierung in der damaligen Methodendiskussion. Damals waren seine Bücher einfach nicht nur nützlich und informativ – das blieben sie zeitlebens – sondern auch noch einigermaßen zu überblicken. Das sollte sich seit den 70er Jahren immer schneller ändern. Wenn ich heute richtig zähle, hat Jost Hermand von 1958 bis zu seinem Tode am 9. Oktober 2021 allein um die 80 Bücher veröffentlicht, von zahlreichen Sammelbänden und Aufsätzen ganz abgesehen. Dabei hat er bedeutende Epochen der deutschen Literaturgeschichte weitgehend ausgespart; um das Mittelalter, um Barock, Aufklärung, Klassik und Romantik hat er sich kaum bemüht. Was ihn immer wieder aufs Neue interessierte, war die deutsche Literatur vom Vormärz bis zur Gegenwart, und zwar weniger in ihrer ästhetischen Autonomie als in ihrer Bedeutung für die übergreifende deutschen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. In diesem Feld ging er immer wieder in die Breite und in die Tiefe, auch ohne Scheu vor gelegentlichen Wiederholungen, zumal bei seinen erklärten Lieblingsautoren. Über Heine hat er fünf, über Brecht vier Bücher veröffentlicht. Seine eigentliche Domäne aber waren weniger solche monographischen Studien, sondern komprimierte kulturgeschichtliche Epochendarstellungen zum Vormärz, zum Kaiserreich, zur Weimarer Republik, zum Faschismus, oder auch thematische Studien zum Judentum, zur Pop-Kultur und zur Ökologie-Bewegung, nicht zuletzt auch zur Bildenden Kunst und zur Musik. Hier fand er seinen typischen Darstellungsstil: stets eminent detailkundig, aber zugleich zusammenfassend und klar ordnend, dabei unbedingt wertungsfreudig und vor allem: lesbar.

Zugegeben: diese stupende Produktivität Jost Hermands begann meine Lese-Kapazität allmählich zu überfordern. Oft blieb es beim Nachschlagen. Da wirkte eine erste persönliche Begegnung wie ein Weckruf. Gestiftet wurde sie durch ein gemeinsames Interesse am Werk von Peter Weiss. Das kam so: Im Dezember 1982 lud Jochen Vogt einen handverlesenen Kreis von Freunden und Kollegen ein zu einem wunderbar informellen, desto intensiveren workshop an der Universität Essen über „Die Ästhetik des Widerstands.“ Ich nahm daran Teil mit zwei Doktoranden aus meinem gleichnamigen Seminar in Hannover. Meine handschriftlichen Protokoll-Notizen über diese Diskussionen habe ich seinerzeit offenbar für aufhebenswert erachtet; ich finde sie noch heute als eine grüne Papp-Kladde in meinem Peter-Weiss-Regal. Darin kommt auch immer wieder Jost Hermand zu Wort. Er hatte zwar keinen Vortrag gehalten, war auch noch nicht mit einer Weiss-Publikation hervorgetreten, sondern war, wie die meisten von uns sogenannten 68ern, in der Verarbeitung der eigenen politischen Biografie von der „Ästhetik des Widerstands“ elektrisiert. Umso mehr mischte er sich mit Kommentaren und Zwischenrufen ein, temperamentvoll und wortreich, trotz seines kleinen Sprachfehlers. Irgendjemand hatte versucht, der Schreibweise der „Ästhetik des Widerstands“ mit Lukacs‘ Essay „Erzählen oder Beschreiben?“ beizukommen. Er konnte nicht wissen, daß er damit bei Hermand einen wunden Punkt berührte (dazu gleich mehr). In meinem Notizbuch steht wörtlich: „Hermand: Gibt das Modell Erzählen oder Beschreiben was her? Peter Weiss jenseits davon; neues Problem: Modernismus-Avantgarde.“ Was Hermand hier genauer bewegte, habe ich erst ein Jahr später verstanden, als ich seinen Beitrag in dem von Alexander Stephan herausgegebenen Band über die „Ästhetik des Widerstands“ las. Er trägt den Titel: „Obwohl. Dennoch. Trotzalledem. Die im Konzept der freien Assoziation der Gleichgesinnten aufgehobene Antinomie von ästhetischem Modernismus und sozialistischer Parteilichkeit in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ und den sie begleitenden ‚Notizbüchern.‘“ Ich habe den Aufsatz jetzt noch einmal gelesen. Darin unterteilt Hermand die künstlerisch-politische Entwicklung von Peter Weiss nicht eben originell in drei Phasen: erstens die ästhetische Autonomie des Frühwerks, zweitens die radikale Negation der Ästhetik durch Politik in den 60er Jahren, und drittens in der „Ästhetik des Widerstands“ der Versuch einer Vermittlung der Gegensätze, und zwar nicht allein denkerisch, sondern, und hier wird Hermand textnah und genau, im Aufspüren realer historischer Versuche zur Bildung einer, wie er sich vorsichtig ausdrückt, „freien Assoziation der Gleichgesinnten“, eines „Zusammengehens proletarischer und bürgerlicher Kräfte.“ Vier solcher Ansätze verfolge Weiss: in den Internationalen Brigaden in Spanien, in der Volkfrontbewegung in Paris um Willi Münzenberg, in der Widerstandsgruppe um die „Rote Kapelle“ und schließlich in dem „Kulturbund“ in Stockholm. Hermands Fazit: „Falls daher die Ästhetik des Widerstands eine Utopie enthält, dann besteht diese im Gedanken der Volksfront, in welcher der Widerspruch zwischen proletarischer Kulturarbeit, kritischer Erbe-Aneignung, ästhetischem Modernismus, bürgerlicher Liberalität und sozialistischer Parteilichkeit im Konzept der Gleichgesinntheit aller ihrer Teilhabenden temporär aufgehoben wird und damit eine qualitativ neue Basis weiterwirkender Hoffnungen bildet.“ (S. 98)

Im Nachhinein wird mir klar: das war die Botschaft, die Hermand im Kopf hatte, als er die narratologische Frage von Erzählen oder Beschreiben vom Tisch wischte. Das war sein Zugriff nicht nur auf Peter Weiss, dem er 2001 noch einmal zusammen mit Marc Silberman eines seiner berühmten „Wisconsin Workshops“ unter dem Titel „Rethinking Peter Weiss“ widmete, das war sein Zugriff auf die Literatur überhaupt: er beurteilte sie nach dem emanzipatorisch-politischen Gebrauchswert ihres Inhalts. Das deckte sich zwar grundsätzlich mit den Impulsen von uns 68er-Germanisten, irritierte uns aber doch zugleich in seiner ungenierten Einseitigkeit. Hier offenbarten sich, scheint mir, auch biographisch begründete, tieferliegende Unterschiede.

Jost Hermand wurde am 11. April 1930 in Kassel geboren, verbrachte seine Kindheit zunächst in Berlin und war dann während des Krieges im Zuge der sogenannten „Kinderlandverschickung“ nach Polen ausquartiert worden, bevor er 1950 in Marburg ein Studium der Literatur, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte begann, das er 1955 mit einer Promotion über „Die literarische Formenwelt des Biedermeier“ bei Friedrich Sengle abschloß. Das war eine Ausbildung ganz im Geiste der restaurativen Nachkriegs-Germanistik. Politisiert wurde Hermand dann vermutlich schon durch den ebenfalls zunächst in Marburg lehrenden Kunsthistoriker Richard Hamann, der seit 1947 zugleich eine Gastprofessur in Ostberlin innehatte, wohin er in den 50er Jahren übersiedelte und den jungen Jost Hermand als Mitarbeiter mitnahm. Noch in Marburg hatte Hamann mit der Konzeption der großen Epochendarstellung „Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus“ begonnen, die er nun in Ostberlin gemeinsam mit Hermand fertigstellen wollte. Tatsächlich hat Hermand die fünf Bände, die von 1959 bis 1975 im Ostberliner Akademie-Verlag unter den Verfassernamen Hamann und Hermand erschienen und mehrfach nachgedruckt wurden, von Anfang bis Ende allein geschrieben, wie er in seiner Autobiographie „Zuhause und anderswo“ (2001) verriet. Aber nicht nur diese im linken Geiste Hamanns konzipierte Arbeit, sondern mehr noch die damit zusammenhängenden Konflikte mit der DDR-Kulturbürokratie dürften ihn nachhaltig beeinflußt haben. Denn als der zweite Band über den „Naturalismus“ erscheinen sollte, beschied man ihm: der Naturalismus sei, wie die damals noch unbestrittene Autorität Georg Lukács (nota bene: „Erzählen oder Beschreiben?“) nachgewiesen habe, nur Abbildung der Wirklichkeit, nicht aber Kunst. Der Konflikt war offenbar unlösbar. 1957 wurde Hermand aus der DDR ausgewiesen. Mit dieser Vergangenheit aber hatte er aber auch in der damaligen Bundesrepublik keine Chancen. Ein Jahr später nahm er eine in der Folge mehrfach aufgewertete Professur für neuere deutsche Literatur und deutsche Kulturgeschichte an der University of Wisconsin-Madison an. Dort blieb sein Arbeitsplatz und sein Wohnsitz bis zu seinem Tode, dort hat er sich offenbar durchaus wohlgefühlt, denn er konnte dort schreiben, darauf kam es an. Als ich 1991 ein Semester zu Gast in Madison war, zeigte er mir sein privates Arbeitszimmer: eine asketische Klause im Keller, ein Regal mit seinen Publikationen, ein einfacher hölzerner Tisch, eine Schreibtischlampe, eine Schreibmaschine. Andererseits: von da aus jettete er über sechzig Jahre immer wieder über den Ozean und pflegte seine zahllosen Kontakte in Deutschland.

Die frühen Konflikterfahrungen mit der DDR-Kulturbürokratie aber haben, wie mir scheint, in Jost Hermands politisch-kulturellem Denken durchaus zwiespältig nachgewirkt. Einerseits hat er an Hamanns linker kulturgeschichtlicher Sichtweise bis hin zur Option für den Sozialismus zeitlebens festgehalten; andererseits konnte auch er dem realen Sozialismus der DDR nichts abgewinnen. Er hat ihn nicht explizit kritisiert, er hat ihn eher ignoriert. Es ist immerhin auffällig, daß er sich kaum mit der DDR-Literatur auseinandergesetzt hat; die zwei Bücher über Arnold Zweig befassen sich ebenso wenig mit der DDR-Literatur wie diejenigen über Brecht. In einer wahrhaft historischen Sekunde, die ich mit ihm teilte, ist mir das noch einmal klar geworden. Am 9. November 1989 saßen wir zusammen mit dem Kollegen Peter Stein aus Lüneburg in einem Zug auf der Rückfahrt von einem Kongress, zu dem uns Hubert Orlowski in Poznan eingeladen hatte. Schon die Vorträge und Diskussionen dieser Tagung waren überschattet von den spärlichen Nachrichten (es gab keine Smartphones!) über die sich zuspitzenden Verhältnisse in der DDR. Nun fuhren wir, eher diffus beunruhigt, vom Ostbahnhof bis zum Bahnhof Zoo just in der Stunde, als Günter Schabowski seine Pressekonferenz gab. Wir waren dabei, aber wir wußten von nichts. Jost Hermand stieg wortlos grübelnd am Zoo aus. Ich sah spät abends zuhause in den „Tagesthemen“ die Mauerstürmer. In seiner Autobiographie hat Hermand erzählt, was ihn damals bewegte: es war nicht die Vorfreude auf eine mögliche Wiedervereinigung, sondern die Hoffnung auf eine innere Erneuerung der DDR im Sinne eines wohlverstandenen Sozialismus. Seine Erwartungen wurden nicht erfüllt. Aber Jost Hermand blieb sich treu. Es gab nicht viele seinesgleichen.

Hannover, den 8.11.2021

Foto von Jost Hermand (1994): Claude Lebus, CC-BY-SA-3.0

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Mikis Theodorakis †

Mikis Theodorakis, 1971 (Foto: Heinrich Klaffs, CC-BY-SA-2.0)
»Wenn der Boden, die Erde, unter der Herrschaft des Asphalts verschwindet, versuchen die traurigen Stadtbewohner ein paar Blumen in Töpfe zu pflanzen. Je mehr sich unser Industriezeitalter ausbreitet, umso mehr verwandeln sich die Erde der Gesellschaft und der Boden des Menschen in einen Asphalt der Gesellschaft und in einen Beton des Menschen.« (Mikis Theodorakis, 1988)      

HANSGEORG HERMANN. »Ein großer Teil der jungen Griechen sagt jetzt: Wir müssen Widerstand leisten gegen das, was Sie mit ›Asphalt‹ und ›Beton‹ umschreiben. […] Was verbinden Sie mit dem Wort ›Widerstand‹? Und was ist für Sie politischer Widerstand?«            
MIKIS THEODORAKIS. »Ich will Ihnen mit einem Beispiel aus der Vergangenheit antworten: Im Juli 1947 brachte man uns, weil wir im Bürgerkrieg als Kommunisten angeblich auf der falschen Seite kämpften, auf die Insel Ikaria in die Verbannung. Ungefähr zweihundert Mann. Die meisten waren Bauern, einige waren Gelehrte, einige waren Künstler wie ich. Fünfzig Prozent der Verbannten aber waren Analphabeten. Wir durften auf Ikaria nicht arbeiten, wir waren in ein Lager eingesperrt, umgeben von Zäunen. Daher beschlossen wir, den Bauernsöhnen, den Fischern, den Tagelöhnern das Lesen und Schreiben beizubringen. Sie lernten das sehr viel schneller, als wir wenigen Bevorzugten angenommen hatten. Deshalb begannen wir auch noch, ihnen Unterricht in Fremdsprachen zu geben – Englisch, Französisch, Italienisch, alles, was wir konnten. Das war meiner Meinung nach unser wichtigster Beitrag im Kampf um Recht und Freiheit. Es war Widerstand. Bildung und Kultur waren der wichtigste Teil des Widerstands. […] Wir haben mit unseren Bildungsangeboten den Grundstein zu dem gelegt, was später, nach dem Ende des Bürgerkriegs und in den sechziger Jahren kam. Die ›Lambrakis-Jugend‹, die Partei Vereinigte Linke des Arztes Grigoris Lambrakis, der dann im Mai 1963 von Rechtsextremisten ermordet wurde, basierte auf diesen Anfängen. Die Bewegung war nicht ideologisch überfrachtet, sie fußte auf Kultur und hatte damit großen Erfolg. Sie trug eine Kultur- und Sozialrevolution. Diese Art von Widerstand war insofern auch eine Pflicht. Bis die Junta kam und alles zerstörte.« [Aus:  »Wogegen müssen wir revoltieren, Herr Theodorakis?« Hansgeorg Hermann im Gespräch mit Mikis Theodorakis. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 90, 18. April 2009, S. Z6.]

Mikis Theodorakis wurde am 29. Juli 1925 auf der griechischen Insel Chios geboren. 1941–44 lebte er im Widerstand gegen die deutschen, italienischen und bulgarischen Besatzungstruppen. 1944–45 kämpfte er als Mitglied der Nationalen Befreiungsfront in den Reihen der Griechischen Volksbefreiungsarmee. Als Kommunist hatte er in den folgenden Jahren Verfolgung, Deportation, Internierung und Folter zu erleiden. Sein Leben 1925–49 erzählt der autobiographische Text »Die Wege des Erzengels«, in deutscher Übersetzung von Asteris Kutulas (* 1960) zuletzt wieder 1998 im Suhrkamp Taschenbuch Verlag erschienen; der autobiographische Bericht über die Jahre 1949–52 erschien, übersetzt von Asteris und Ina Kutulas (* 1965), unter dem Titel »Bis er wieder tanzt« 2001 im Insel-Verlag Frankfurt/M. Seit den 1950er Jahren feierte Theodorakis als Komponist international Erfolge. Seine »Suite Nr. 1 für Klavier und Orchester« wurde 1957 in Moskau durch eine von Dimitri Schostakowitsch und Hanns Eisler geleitete Jury mit der Goldmedaille ausgezeichnet.

Dem breiten Publikum bekannt wurde er vor allem durch seine Filmmusiken, darunter als berühmteste die zu »Alexis Zorbas« (1964) oder die zu »Z« (1969), einem Klassiker des politisch-engagierten Films über die Ermordung des Sozialisten Grigoris Lambrakis (* 1912) in Saloniki am 22. Mai 1963. Zu seinen bekanntesten Werken gehört außerdem der 1964 auf LP veröffentlichte Liederzyklus »Mauthausen« auf Gedichte von Iacovos Kambanellis (1921‒2011), die die von Theodorakis entdeckte Sängerin Maria Farantouri (* 1947) interpretierte. 1967 erschien in der Reihe »Poesiealbum« ein Sonderheft mit Gedichten und Noten von Theodorakis (Verlag Neues Leben, Berlin). 1970–74 lebte Theodorakis im französischen Exil, wo unter anderem das Oratorium »Canto General« nach dem gleichnamigen Werk von Pablo Neruda (1904–1973) entstand. Seine erste Oper »Die Metamorphosen des Dionysos« (1985) ist dem griechischen Lyriker Kostas Karyoatakis (1896‒1928) gewidmet (das Libretto erschien übersetzt von Asteris Kutulas mit neun Collagen und einem Text von Ina Kutulas im Romiosini Verlag, Köln 1995), seine letzte Oper »Lysistrata« erschien 2001.

Für sein musikalisches und politisches Engagement erhielt er 2005 den IMC-UNESCO-Musikpreis und die Ehrenmitgliedschaft der Europäischen Linkspartei. Arthur Miller (1915–2005) meinte: »Mikis Theodorakis ist ein unglaublicher Mann, der in Griechenland einen lebenslangen Kampf für die Musik geführt hat, und zugleich für die Freiheit, die evidenterweise diese Musik begleiten muss. Ich bezweifle, ob es ein anderes Leben gegeben hat, das so stark die Zusammenhänge zwischen revolutionärer Kunst und politischer Freiheit aufzeigt.« ‒ Mikis Theodorakis starb 96-jährig am 2. September 2021 in Athen.

Arnd Beise (2009, revidiert 2021)

Foto von Mikis Theodorakis (1971): Heinrich Klaffs, CC-BY-SA-2.0

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Der IPWG-Vorstand trauert um Hans-Christian Stillmark

Mit Bestürzung nehmen wir die Nachricht vom Hinschied Dr. Hans-Christian Stillmarks zur Kenntnis.

Seit 12.12.2020 war er Mitglied des Vorstands der Internationalen Peter-Weiss-Gesellschaft e.V. Doch schon lange vorher war er (nicht nur) als Peter-Weiss-Forscher der Gesellschaft verbunden. Was seine Publikationen zu Weiss angeht, erinnere ich hier nur an den von ihm mit herausgegebenen Band "Ein Riss geht durch den Autor" (2009), sowie an den Aufsatz über Weiss und Müller im PWJ 13/2004 und an den Aufsatz über die Textcollage "Von Insel zu Insel" aus dem Jahr 2018.

Zuletzt war Hans-Christian mit der Potsdamer Niederlassung der IPWG beschäftigt, die er initiierte und betreuen wollte. Überraschend starb er am 25. August diesen Jahres. Wir werden den klugen und initiativen, zugleich hingebungsvollen Kollegen und Freund nicht vergessen und sein Werk fortsetzen.

Für die Gesellschaft und den Vorstand

Arnd Beise

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Saisonauftakt bei Theater Gegendruck

Ab August 2021 kann nach der langen Zwangspause Theater Gegendruck endlich sein Publikum wieder empfangen.

Zum Auftakt gibt es eine kleine Open Air-Veranstaltung am Sonntag, 22. August 2021 um 16 Uhr. Unter dem Titel MARAT/SADE-Atelier zeigt das Theater vor dem Atelierhaus, Königstraße 49a, Recklinghausen-Süd als kleinen Vorgeschmack Szenen aus einer Neuinszenierung des Stücks Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats... von Peter Weiss, die am 2. Dezember 2021 Premiere haben wird. Der Eintritt ist frei. 

Die spartenübergreifende Performance NACHTIGALL VERBORGEN IM GRAS ist dann am Sonntag, 12. September 2021, zwischen 14 und 17 Uhr im und um das Atelierhaus zu sehen. In dieser interaktiven Kunstaktion, die durch den Förderetat der Stadt Recklinghausen für die Freie Kultur- und Kreativszene Recklinghausen unterstützt wird, finden sich Bildende Kunst, Musik und  Rezitation zusammen. Auch in diesem Fall ist der Eintritt frei.

Für beide Veranstaltungen wird um Reservierung (telefonisch unter: 02361/374773 oder per Mail an: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.) gebeten.

Am Mittwoch, 27. Oktober 2021, 19.30 Uhr (Ruhrfestspielhaus Hinterbühne) und am Sonntag, 31. Oktober 2021, 18 Uhr (Kunstmuseum Bochum) zeigt Theater Gegendruck wieder die Inszenierung DIE ERMITTLUNG von Peter Weiss, die gemeinsam mit dem Gegendruck-Ensemble und einem Chor Recklinghäuser Bürgerinnen und Bürger erarbeitet wurde.

Aktuelle Informationen auch unter https://theater-gegendruck.de

Medienberichte

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Peter Weiss im Kontext der Literaturgeschichte und Poetik

Kurzke, Hermann: Literatur lesen wie ein Kenner. Eine Handreichung für passionierte Leserinnen und Leser. Müchen: Beck, 2021. 394 Seiten. 28.00 €

Hermann Kurzke, Professor der Literaturwissenschaft und katholischer Theologe, hat die Ergebnisse seiner Universitätsarbeit immer wieder in bester essayistischer Weise für ein breites Publikum aufbereitet. Die Spannweite seiner Arbeiten reicht dabei von der Expertise zum Kirchenlied über Goethe, Büchner bis hin zu Thomas Mann und in die Gegenwartsliteratur. Mit seiner „Handreichung“ führt er in die deutsche Literatur und ihre internationalen Bezüge ein und zeigt Wege zum Umgang mit den sprachlichen Kunstwerken.

Peter Weiss wird nicht ausführlich behandelt, aber zwei Mal sehr wertschätzend erwähnt:

„So viele gute Bücher auch geschrieben worden sein mögen – von Grass und Böll, von Peter Weiss und Heiner Müller, von Anna Seghers und Christa Wolf – den Rang, den die deutsche Literatur vor 1945 einnahm, hat sie nach 1945 im großen Ganzen nicht wieder erreichen können.“ (S. 43)

Im Rahmen der Behandlung von Nationalsozialismus und Antisemitismus stellt Kurzke ausführlich Max Frischs „Andorra“ vor, vermerkt aber:

„Weit seltener als Andorra kam die Ermittlung (1965) von Peter Weiss (1916 - 1965) zur Ehre einer schulischen Betrachtung, obgleich man aus diesem packenden dokumentarischen Stück über den Frankfurter Ausschwitz-Prozess (1963 - 1965) sehr viel genauer erfährt, wie die Judenaktionen vor sich gingen.“ (S. 184)

Rüdiger Sareika

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Dante Alighieri. Siebenhundertster Todestag

Die Übersetzungen der Comedia (Göttliche Komödie) von Borchardt und Gmelin mit dem italienischen Original vergleichend machen die Protagonisten der Ästhetik des Widerstands eine merkwürdige Erfahrung:

„Solchermaßen von den sprachlichen Ungenauigkeiten, den geglätteten Metaphern, den verlornen Rhythmen und Tonfolgen der Außenschicht vorstoßend in die innren Zusammenhänge einer nie nachlassenden Glut, merkten wir, wie Erlebnisse in uns wach wurden, von denen wir vorher nichts gewußt hatten, die in uns angelegt gewesen waren, doch durch die Poesie erst zur Wirkung gelangten.“ (Neue Berliner Ausgabe 2016, S. 99.)

Wir gratulieren mit Peter Weiss dem vermutlich im Juni 1265 geborenen Dichter Dante Alighieri in seinem 700. Todesjahr. Mit seinem Hauptwerk, der Göttlichen Komödie, überwand Dante das bis dahin dominierende Latein und konstituierte das Italienische als Literatursprache. Die in Hölle, Fegefeuer und Paradies aufgeteilte Comedia gilt als als eines der größten Werke der Weltliteratur.

In der Ästhetik des Widerstands führt Peter Weiss die Comedia unmittelbar durch die Protagonisten in die Erzählung ein, die über Dantes Werk reflektieren. Zugleich wird die Comedia bei Weiss in zahlreichen Motiven, Anspielungen und mythischen Ableitungen verarbeitet.

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Filmische Projekte des theaterprozess

In Anknüpfung an frühere Filmerfahrungen setzt das in Frankfurt am Main ansässige „theaterprozess“ zwei Filmprojekte mit engem Theaterbezug um. Der im Herbst 2020 finalisierte Film „Adler.Werke.Katzbach – Der Film zum Stück“ handelt in Oratorienform vom Frankurter KZ-Außenlager „Katzbach" in den Adlerwerken und wurde u. a. beim Lichter Filmfestival gezeigt. Am 14. Juli 2021 wird er während des Frankfurter Kultursommers ab 21.30 Uhr im Gallustheater Frankfurt zu sehen sein.
 
Das zweite Filmprojekt nimmt die frühere Beschäftigung des theaterprozess mit dem Auschwitzprozess wieder auf. Die filmische Umsetzung fokussiert, unter dem Titel „Prozess Auschwitz“, auf die Formen der Erinnerung bei Opfern und Tätern. Der zweite Film soll zum November 2021 abgeschlossen sein. Beide Filme werden für Fortbildungs- oder andere nichtkommerzielle Veranstaltungen kostenlos zur Verfügung gestellt.
 

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Jour fixe zu „Verfolgung, Widerstand, Exil“ mit Texten von Weiss

In der Breisacher Spitalkirche in Breisach am Rhein wurde im Rahmen einer Zusammenarbeit der Gedenk- und Bildungsstätte Blaues Haus Breisach mit dem Bronislaw-Huberman-Forum zwischen dem 11. und 13. Juni 2021 ein Schwerpunkt-Wochenende mit Musik und Literatur zum Thema "Verfolgung, Widerstand, Exil" angeboten. Im Mittelpunkt des dritten Abends am Sonntag, dem 13. Juni standen Texte von Peter Weiss zu seiner Kafka-Dramatisierung "Der Prozess", zur Textgeschichte seines Oratoriums "Die Ermittlung" sowie zu Fragmenten aus seiner "Ästhetik des Widerstands" (Lesung: Gerd Heinz und Helmut Grieser). Zum Abschluss erklang Luigi Nonos elektronische Realisation "Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz – cori dall Ermittlung di Piero Weiss".

Nähere Informationen (Badische Zeitung)

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Erasmus Schöfer wird 90

Erasmus Schöfer, der Schöpfer des vierbändigen Zeitromans Die Kinder des Sisyfos, der zwischen 2001 und 2008 erschien und in dem ausgehend von der Geschichte der westdeutschen 68er-Bewegung die politischen und sozialen Kämpfe der 1970er und 1980er Jahre erzählt werden, ist am 4. Juni 2021 90 Jahre alt geworden.

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„The Aesthetics of Resistance“: Band 2 erschienen

The Aesthetics of Resistance, Vol. 2
Anderthalb Jahrzehnte nach dem ersten Band hat Duke University Press 2020 den zweiten Band der Übersetzung von Peter Weiss' opus magnum „Die Ästhetik des Widerstands“ in das amerikanische Englisch vorgelegt: Peter Weiss: The Aesthetics of Resistance. Volume II. A novel. Translated by Joel Scott. Durham, N. C., USA: Duke 2020.

Verlagsinformation:

A major literary event, the publication of the second volume of Peter Weiss's three-volume novel The Aesthetics of Resistance makes one of the towering works of twentieth-century German literature available to English-speaking readers for the first time. The crowning achievement of Peter Weiss, the internationally renowned writer best known for his play Marat/SadeThe Aesthetics of Resistance spans the period from the late 1930s to World War II, dramatizing antifascist resistance and the rise and fall of proletarian political parties in Europe.

Volume II, initially published in 1978, opens with the unnamed narrator  in Paris after having retreated from the front lines of the Spanish Civil War. From there, he moves on to Stockholm, where he works in a factory, becomes involved with the Communist Party, and meets Bertolt Brecht. Featuring the narrator's extended meditations on paintings, sculpture, and literature, the novel teems with characters, almost all of whom are based on historical figures. Throughout, the narrator explores the affinity between political resistance and art—the connection at the heart of Weiss's novel. Weiss suggests that meaning lies in embracing resistance, no matter how intense the oppression, and that we must look to art for new models of political action and social understanding. The Aesthetics of Resistance is one of the truly great works of postwar German literature and an essential resource for understanding twentieth-century German history.

Duke University Press

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Gisela Peter für ehrenamtliche Tätigkeit in der Peter-Weiss-Bibliothek mit Verdienstorden der Bundesrepublik ausgezeichnet

Für ihr jahrzehntelanges, mittlerweile ehrenamtliches Wirken in der Peter-Weiss-Bibliothek, einer Stätte der Begegnung mit Lesern und Schriftstellern in Berlin-Hellersdorf, wurde Bibliothekarin Gisela Peter von Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle bei einem feierlichen Akt im Januar 2021 der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland überreicht. Gisela Peter hat gemeinsam mit ihrem Mann dazu beigetragen, dass seit 1990 etwa 500 Veranstaltungen organisiert werden konnten und sich die Hellersdorfer Bibliothek zu einem Treffpunkt auch für die Nachbarschaft entwickelte.

Medienbericht: