In memoriam Friedrich Christian Delius
Auf einer Veranstaltung der IPWG zur Leipziger Buchmesse 2010 erläuterte F. C. Delius seine Position bei der Behandlung politischer und gesellschaftlicher Themen. Nicht als „politischer Autor” wollte er verstanden werden, sondern als politisch engagierter Zeitgenosse, der Literatur produziert.
Romane und Erzählungen wie „Mogadischu Fensterplatz“, „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“, „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ oder „Bildnis der Mutter als junge Frau“ verknüpfen prägende politische Ereignisse (nationalsozialistische Vergangenheit, Studentenbewegung, Aktivitäten der RAF, deutsche Teilung und Wiedervereinigung) mit der eigenen Lebensgeschichte.
Wie Peter Weiss, mit dessen Werk er bestens vertraut war, griff auch Delius zeitgeschichtliche Themen auf, verzichtete aber auf die Vermittlung fertiger Lösungen. Sein umfangreiches literarisches Werk fügt sich zu einem Kompendium deutscher Nachkriegs-(Kultur-)Geschichte, das nicht einfach Fakten illustriert, sondern in rhythmischer und formbewusster Sprache sensibilisiert für die Innenseiten von Politik und Historie.
Am 30. Mai 2022 ist Friedrich Christian Delius in Berlin im Alter von 79 Jahren gestorben.
Dr. Rüdiger Sareika
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Hannes Krauss: Nachruf auf Friedrich Christian Delius (* 13. Februar 1943 in Rom; † 30. Mai 2022 in Berlin)
In seiner Erzählung Die Jerusalemer Krawatte erinnert sich Friedrich Christian Delius an ein israelisch-deutsches Schriftstellertreffen, bei dem er wie so oft in der „Rolle als Zuhörer, Zuschauer und Schweiger vom Dienst“ verharrt habe.
Schweiger? Kaum einer hat so vernehmlich „geschwiegen“ über die Zustände in jenem Land, in das er zwar nicht hineingeboren wurde, in dem er aber die meiste Zeit seines Lebens verbrachte: in der hessischen und ostwestfälischen Provinz und in Berlin (erst in der Halbstadt, dann in der Hauptstadt). Dieser Autor hat keine großen Reden gehalten und keine Appelle inszeniert (auch nicht sich selbst), aber in mehr als drei Dutzend Büchern – Gedichtbänden, Romanen, Erzählungen, Essays, Satiren – hat er die Struktur und die Innenseiten einer Gesellschaft bloßgelegt, die geprägt war von der Verdrängung ihrer Vergangenheit. Sein literarisches Werk fügt sich zur deutschen Chronik der letzten fünfundsiebzig Jahre.
Schon früh als Lyriker erfolgreich (und von manchen auch gefürchtet) wurde er 1972 mit der satirischen Festschrift zum 125jährigen Bestehen des Hauses S (Unsere Siemenswelt) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Nicht zuletzt durch die Prozesse, mit denen der Weltkonzern diesen Autor und seinen Verlag zu ruinieren drohte. Die schon hier erkennbare Arbeitsweise hat Delius in den folgenden Jahrzehnten zur Meisterschaft perfektioniert: eine – durch akribische Recherche abgesicherte – fiktionale Adaption fremden Denkens und Handelns, die Zustände, Haltungen, Mentalitäten und Ideologien kenntlich machte. Seine Texte illustrieren die politischen Verhältnisse nicht, sondern ordnen sie mit poetischen Mitteln ein in historische und lebensgeschichtliche Kontexte. Wer sich nur für den Wirklichkeitsgehalt interessierte, versäumte ihre literarische Qualität. Offenkundig wurde das bei der skeptischen Rezeption des dritten Teils seiner Trilogie über den Deutschen Herbst (Himmelfahrt eines Staatsfeindes, 1992). Der war kein Buch über die RAF und den Terrorismus, sondern ein literarisches Spektakel, das mit kalkulierter Dramaturgie und sprachlicher Akkuratesse ein Psycho- und Soziogramm der westdeutschen Gesellschaft zeichnete – einer Macher- und Organisatoren-Gesellschaft, in der den Massen nur die Konsumentenrolle blieb.
Ein anderes großes Thema Delius'scher Prosa ist die deutsche Teilung. Am bekanntesten wohl Die Birnen von Ribbeck (1991). Dieser Monolog eines LPG-Bauern – ausgelöst von Westberliner Besuchern, die Fontane zu Ehren in Ribbeck einen Birnbaum pflanzen und dabei vor allem sich selbst feiern – gerät zum furiosen Räsonnement über deutsche Geschichte (Krieg, sowjetische Besatzung, Leben in der DDR) und über die als Kolonisierung wahrgenommene Vereinigung. In
Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (1995) verarbeitete Delius die Geschichte eines DDR-Kellners, der in den 1980er Jahren über die Ostsee floh, weil er auf den Spuren seines Landsmannes Seume einmal im Leben nach Syrakus reisen und anschließend in die DDR zurückkehren wollte. In der fiktionalen Version entsteht ein facettenreiches Panorama des Alltagslebens in der späten DDR.
Noch prägnanter ist Delius‘ literarischer Blick auf deutsche Geschichte und deutschen Alltag in seinen autobiographisch grundierten Texten. Erinnerungen an den 4. Juli 1954 (den Tag des Endspiels um die Fußballweltmeisterschaft in Bern) werden in Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde (1994) zum Auslöser für ein Buch über Väter, über Unterdrückung und Befreiung durch Sprache, über hessisches Dorfleben in den 1950er Jahren, über die Nachkriegszeit, über das Heranwachsen im Schatten der innerdeutschen Grenze, über pubertäre Sehnsüchte und Ängste.
Auch der Studentenbewegung der 1960er Jahre näherte Delius sich über die Schilderung eines singulären Ereignisses an (Amerikahaus und der Tanz um die Frauen, 1997) und zeigte, dass diese nicht zuletzt kollektive Adoleszenz war. Die Verschränkung von politischer Symbolik und privater Not dokumentiert, dass die Repressionen der Adenauerzeit sich auch in den Körpern eingenistet hatten.
Eine weitere Folge dieser aus der Rekonstruktion privater Wahrnehmung gefügten Chronik erschien 2006: Bildnis der Mutter als junge Frau, gewissermaßen pränatale Erinnerungsliteratur. Der wie Die Birnen von Ribbeck, aus einem einzigen Satz bestehende Text schildert den Gang einer hochschwangeren jungen Deutschen durch Rom – im Januar 1943 auf dem Weg zu einem Konzert in der evangelischen Kirche. Die Wahrnehmungen und Gedanken dieser Frau (offenkundig der Mutter des Autors), deren Mann Soldat und Hilfspfarrer war und unerwartet nach Nordafrika versetzt wurde, präsentieren Bilder vom historischen und zeitgenössischen Rom, von der mecklenburgischen Heimat, vom italienischen Faschismus, von katholischer Opulenz und protestantischer Nüchternheit, von Kunst und der Musik. Zusammengehalten, teilweise auch überlagert, werden diese Bilder durch die Sorgen und Ängste einer Frau, die mitten im Krieg unter Menschen lebt, deren Sprache sie nicht versteht, einer unpolitischen Frau, die unter den politischen Verhältnissen leidet, sie aber erträgt. Der Text ist ein literarisches Kunststück, bei dem allein der souveräne Gebrauch der erlebten Rede die selbstbewusste Joyce-Referenz im Titel rechtfertigt.
In die Reihe jener Bücher, die autobiographisch grundierte Momentaufnahmen zu Miniaturen der jüngeren deutschen Geschichte verdichten, gehört schließlich Die Zukunft der Schönheit (2018), eine Episode vom ersten USA-Besuch des dreiundzwanzigjährigen Autors, der auf dem Rückweg von einer Gruppe 47-Tagung in Princeton am 1. Mai 1966 in New York den Auftritt des Jazz-Musikers Albert Ayler erlebte. In der Rückschau wird daraus ein eindrucksvolles Buch über Musik und Sprache, über Versagensängste (als junger Autor und als Kind), über Erinnerungen an den Kennedymord und die ersten Vietnam- Demonstrationen. Zugleich ist es eine – nicht ohne Sympathie geführte – Auseinandersetzung mit dem früh verstorbenen, wortgewaltigen und strengen Vater, der gleichermaßen Vorbild und Widerpart war. Auch hier wird Zeitgeschichte in privater Perspektive gespiegelt. Die Erinnerungen an die Improvisationen des Jazz-Musikers lösen kluge Reflexionen aus über den Zusammenhang von Schreiben und Widerstand (auch gegen die politischen Verhältnisse). Ein Kunst-Stückchen, das auf weniger als 100 Seiten mehr über die Generation der in den 1940er Jahren Geborenen verrät, als mancher Geschichtswälzer. Zudem ein Musikbuch, das durch die Musikalität seiner Sprache glänzt.
Last but not least muss das letzte zu Lebzeiten erschienene Buch erwähnt werden: drei unter dem Titel Die sieben Sprachen des Schweigens zusammengefasste Texte, in denen sich biografische Schlüssel-Erlebnisse (Schriftstellertreffen in Jerusalem, Begegnung mit Imre Kertesz, Nahtoderfahrung auf der Intensivstation) zur exemplarischen Lebensbilanz formieren. Eines der reifsten Bücher dieses Autors, das zu seinem Leidwesen vom Feuilleton kaum beachtet wurde.
Delius‘ Selbsteinschätzung, “kein politischer Autor” zu sein, mag zunächst irritieren, aber sie trifft zu. Er war ein politisch engagierter Zeitgenosse, der “keine Angst vor der Wirklichkeit” hatte und diese Wirklichkeit in Literatur goss. Eine Literatur, die den Blick schärft für originelle Perspektiven und mit ihrer rhythmischen, formbewussten Sprache sensibilisiert für die Innenseiten von Politik und Historie. Nicht mit großen Worten, aber mit genauen Sätzen hat er dieses Land unter seiner glatten – bisweilen auch schmutzigen – Oberfläche ausgeleuchtet. Nie lautstark, immer präsent. Ein wacher Zeitgenosse und zugleich ein Sprachkünstler, der – Peter Weiss nicht unähnlich – das Politische im Privaten zum Vorschein brachte.
Nun ist dieser zurückhaltend-sympathische Mensch endgültig verstummt. Sein unüberhörbares Schweigen wird uns fehlen, aber seine Bücher bleiben. Bücher, die längst zum Kanon der deutschen Gegenwartsliteratur gehören.